Das Evangelium nach Lukas

Am ersten Advent beginnt in den Gottesdiensten ein neues Lesejahr

„Schon viele haben es unternommen, eine Erzählung über die Ereignisse abzufassen, die sich unter uns erfüllt haben.“ So beginnt das Evangelium nach Lukas (Lk 1,1). Mit dem ersten Adventssonntag beginnt nun im Lesezyklus der Kirche das Lukas-Jahr (C). Von den uns bekannten frühen Evangelien ist das Evangelium nach Lukas das einzige, das sich von den Anfängen Jesu bis zu seiner Himmelfahrt erstreckt (Lk 1,30 f.; 24,50 f.). Das Evangelium und die Apostelgeschichte geben sich als zwei Bände eines Doppelwerkes, das vom selben Autor stammt: Das Vorwort zur Apostelgeschichte weist auf ein erstes Buch hin, bei dem es sich zweifellos um das Evangelium nach Lukas handelt (Apg 1,1-3). Die ältesten Überschriften des dritten Evangeliums nennen „Lukas“ als Verfasser. Altkirchliche Ausleger identifizierten ihn mit dem gleichnamigen Arzt und Mitarbeiter des Paulus, der in paulinischen und deuteropaulinischen Briefen erwähnt wird (Phlm 24; Kol 4,14; 2 Tim 4,11).

Wer war Lukas?

Die Forschung geht heute davon aus, dass der Autor des dritten Evangeliums ein „Gottesfürchtiger“ war, ein Heide, der schon lange aktiv mit dem Ein-Gott-Glauben Israels und dem hochstehenden Ethos des Judentums sympathisierte, ohne selbst durch das Zeichen der Beschneidung den letzten Schritt gegangen und formal Jude geworden zu sein. Lukas zeigt sich bestens vertraut mit Sprache und Inhalt der griechischen Fassung der Bibel, der Septuaginta, sein Evangelium zeigt zugleich lebhaftes Interesse an der christlichen Heidenmission. Der Hauptmann von Kafarnaum (7,1-10) ist eine Idealgestalt, ein vorbildlicher Gottesfürchtiger.

Wann und wo entstand das Evangelium und an wen wendet es sich?

Gesichert ist, dass Lukas sein Evangelium zeitlich nach der Entstehung des Markusevangeliums schrieb, das auf etwa 70 n. Chr. datiert wird. Oft werden die Jahre 80 bis 90 n. Chr. genannt. Zum Abfassungsort ist festzuhalten, dass Lukas mit der Geografie des Heiligen Landes nur wenig vertraut war, die Ortsangaben sind oft vage. Es ist darum wahrscheinlich, dass er sein Evangelium nicht im Heiligen Land verfasst hat. Lukas schrieb für eine Gemeinde außerhalb Palästinas, deren Mitglieder wohl bereits mehrheitlich aus dem Heidentum stammten.

Welche Quellen nutzte Lukas?

Lukas kannte und nutzte intensiv das Evangelium nach Markus und eine Sammlung von Jesus-Worten, die sogenannte Logienquelle (Spruchquelle; von griechisch logion: Spruch). Lukas hat den Stoff des Markusevangeliums und seine Anordnung der Inhalte weitestgehend übernommen, vermeidet aber die Doppelungen der markinischen Erzählungen. Zudem behält Lukas den Schritt zur Heidenmission dem Petrus nach Ostern vor, nachdem der auferweckte Herr vom Himmel her alle Speisen für rein erklärt hat (Apg 10,10-16; vgl. Mk 7,18 f.). Der ursprüngliche Text der Logienquelle ist uns nicht überliefert; wir rekonstruieren ihn nur aus den Worten, die bei Lukas und Matthäus, nicht aber bei Markus überliefert sind. Was sich darüber hinaus ausschließlich bei Lukas findet, nennen wir „lukanisches Sondergut“. Gerade diese Inhalte aber haben sich tief ins Gedächtnis der Christen, ja ins kulturelle Gedächtnis, eingeprägt. Denken wir an die Weihnachtserzählung (Lk 2,1-20) oder an die Gleichnisse vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30-37) und vom barmherzigen Vater bzw. vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32).

Lebensbild

Der literarischen Form nach ist das Lukasevangelium ein antikes Lebensbild (griechisch: bios, lateinisch: vita), das den Charakter einer Person anhand ausgewählter Worte und Taten darstellt, wobei die rahmende Schilderung von Herkunft und Sterben besonders wichtig ist. Anders als Markus und Matthäus nennt  Lukas sein erstes Buch nicht „Evangelium“ (griechisch euangelion,

Mk 1,1; Mt 26,13). Lukas folgt den Regeln der antiken Geschichtsschreibung (Lk 1,1-4). Nach diesen Regeln entsteht eine zusammenhängende Erzählung, die nicht nur Anekdoten und Sprüche aneinanderreiht, sondern Sinnlinien des Geschehens und durchgehende Charakterzüge der handelnden Personen herausarbeitet. Das Ziel ist eine angemessene Darstellung nicht bloß der Fakten, sondern die Darlegung ihres inneren Zusammenhangs. Gefundenes (Fakten) und Erfundenes (Fiktion), das das Gefundene unterstreicht, stehen sich nicht unversöhnlich gegenüber. Doch dies bedeutet nicht Beliebigkeit: Vor allem eigenen Gestaltungswillen steht die Treue zur Überlieferung, die Lukas für historisch verbürgt hält.

Suchen und retten, was verloren ist

Die drei Gleichnisse vom Finden des Verlorenen – Schaf, Drachme, Sohn – stehen nicht nur kompositorisch im Mittelpunkt des Evangeliums, sondern auch der Sache nach. Seine Sendung fasst Jesus in einem Satz zusammen: „Der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.“ (Lk 19,10) Die Verlorenen sind die Zöllner und Sünder. Gott ist der barmherzige Vater, der ihre Umkehr sehnsüchtig erwartet und der sie mit offenen Armen empfängt. Jesus sucht und rettet das Verlorene aber auch, indem er, im Namen des Vaters, den Armen, Hilflosen und Kranken, die im Gleichnis vom armen Lazarus repräsentiert sind (Lk 17,9-31), frohe Botschaft bringt. Vergebung für die Sünder und Hilfe für die Armen sind keine fernen Verheißungen, sondern bestimmen die Gegenwart, sie verwirklichen sich im Hier und Heute.

Heute

Jesus gehört zu den Bettelarmen, die in ihrem Leben und Sterben nur auf den Vater im Himmel vertrauen können. In seinen letzten Worten am Kreuz kommen die Sinnlinien seines Lebens zusammen. Nicht einmal seine Peiniger schließt der Sohn des Vaters aus der Sündenvergebung aus: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lk 23,34) Dem einen Verbrecher, der bereut und sich hilfesuchend an Jesus wendet, öffnet er ohne Zögern die Tür. „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“ (Lk 23,43) Bis dahin spannt sich ein großer Bogen von der Geburt Jesu, die ein Engel mit den Worten verkündigt: „Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren.“ (Lk 2,11).

Susanne Sandherr
aus: Magnificat. Das Stundenbuch 12/2024, Verlag Butzon & Bercker, Kevelaer; www.magnificat.de In: Pfarrbriefservice.de